Heute Abend hat es sich Claudia vor dem Fernsehgerät so richtig gemütlich gemacht. Einfach abhängen vor einem Film, der sie innerlich in eine andere Welt entführen soll. Wenn da nicht an den spannendsten Stellen diese nervtötenden Werbeunterbrechungen wären: Eine schöne Frau springt Claudia aus dem Werbefernsehen an und hüpft ihr geradewegs auf die innere Couch. Wenig Stoff lässt eine mehr als tadellose Figur erahnen, pfirsichsamtene Haut strahlt, lockeres wunderbar dichtes Haar streicht sie mit leichter Hand aus ihrem Gesicht, und eine betörende Stimme dringt aus dem Fernsehgerät nicht nur in Claudias, sondern in Hunderttausende andere Frauenherzen: „Was soll eine Frau von ihrem Leben erwarten?“, haucht die Schönheit.
Schon diese Frage geht doch einfach unter die Haut, oder nicht? Und ehe Claudia mit Blick auf Jogginghosen-Klaus, der sich schräg links von ihr am Computer ergötzt, zu irgendwelchen tiefgründigen Gedanken ansetzen kann („Ach, ja, schluchz, schnief, was habe ich denn überhaupt noch von meinem Leben zu erwarten?“) wird sie von der Werbeschönheit schon eingeholt: „Alles!“, haucht die Dame auf dem Bildschirm. „Wie, alles?“ Ja, doch wirklich. Claudia kann einfach alles vom Leben erwarten: Wie konnte sie das nur vergessen ? Aber sicher doch, wer wollte sich auch mit weniger zufrieden geben? Nur noch wenige Sekunden und Claudia erfährt, wer sie auf diese Fährte „Erwarte alles!“ lockt: Natürlich, eine große Kosmetikkette mit ihrer neuen, viel versprechenden Falten reduzierenden Tagescreme.
Okay, schon kapiert. Es geht mal wieder um raffinierte Werbestrategien, Absatzmärkte, zielgruppenorientiertes Marketing. Zufrieden kuschelt sich Claudia in ihre Couchkissen, lässt die Schönheit auf dem Schirm Claudia Schiffer oder sonst wie heißen und verscheucht tapfer all die Gedanken, Wünsche und Sehnsüchte, die diese Stimmen um sie herum wecken. Aber wie lästige Mücken umkreisen sie ihre Nase, denn leider hat sie bei Licht das Fenster offen gelassen, pardon, sie ist auch nur ein Mensch … und alle Werbepsychologen wissen doch genau, wie sie uns zielgenau erwischen.
Die Erwartungen, die durch wen oder was auch in uns geweckt werden und uns so viel versprechen, sind nur die Kehrseite der Medaille: nämlich der Erwartungen, die an uns gestellt werden. Zuspruch ist Anspruch.